Lesser Ury – der Einzelgänger

Lesser Ury – der Einzelgänger

Lesser Ury − der Einzelgänger

Von Karoline Feulner


»Lesser Ury war der geborene Außenseiter und blieb es zeitlebens, wohl mehr dank seines nervösen Temperamentes, das ihm den Umgang mit Menschen oft genug erschwerte, als wegen seiner künstlerischen Eigenschaften, die ihn befähigt hatten, sich unter die Führenden einzureihen.«[1] Wie Franz Servaes anlässlich der Berliner Gedenkausstellung kurz nach Urys Tod schrieb, war Lesser Ury der Einzelgänger par excellence unter den Berliner Künstlern der Jahrhundertwende. Zudem hatte er einen sehr schwierigen Charakter, der seine Isolation vorantrieb: Er war überheblich, hatte unkontrollierte Wutausbrüche, die potenzielle Käufer oft vergraulten, misstraute jedem, litt später unter Verfolgungswahn und machte sich durch sein Verhalten zahlreiche Feinde.[2] Seine höchst interessante Biografie zeichnet ein Künstlerleben im Umfeld der Künstlervereinigung der Berliner Secession nach, das zeigt, wie wichtig eine Vernetzung und Selbstvermarktung schon damals war, um auf dem Kunstmarkt bestehen zu können. Urys Karriere scheiterte aus verschiedenen Gründen, wobei seiner Persönlichkeit auch ein großer Anteil daran zuzuschreiben ist. Zeitlebens blieb ihm der große Durchbruch verwehrt.
Die Sonderausstellung in der Max Slevogt-Galerie auf Schloss Villa Ludwigshöhe ermöglicht den direkten Vergleich mit Gemälden des nahezu gleichaltrigen Konkurrenten in der Berliner Secession Max Slevogt, dessen Highlights aus dem eigenen Bestand hier dauerhaft präsentiert sind. Im Gegensatz zu dem deutlich älteren Max Liebermann trennen Lesser Ury und Max Slevogt lediglich sieben Jahre Altersunterschied. Ihre Künstlerbiografien weisen diverse Parallelen auf, dennoch verfolgten sie ihre künstlerischen Karrieren auf ganz unterschiedliche Weise. Leider sind keine Briefe von Ury an Slevogt erhalten, die einen Anhaltspunkt liefern könnten, wie das Verhältnis der beiden Künstler aussah.[3]

Ury der Autodidakt
Im Gegensatz zu den drei bekanntesten sogenannten »Deutschen Impressionisten«, Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt, stammt Ury aus sehr ärmlichen Verhältnissen.[4] Geboren wurde er 1861 in dem brandenburgisch-polnischen Kreishauptort Birnbaum im Regierungsbezirk Posen (heute Międzychód). Kurz nach dem frühen Tod des Vaters, Ury war erst sieben Jahre alt, zog er 1872 mit seiner Mutter und seinen Brüdern Joseph und Julius in die Hauptstadt Berlin.[5] Laut Julius Norden hatte Ury sehr negative Erinnerungen an diese prägende Kindheit: »Schwer, unendlich schwer war sein Leben. Eine fast ununterbrochene Kette von Not und Elend, Hunger, richtigem Hunger, und Krankheit.«[6] Trotz aller Widrigkeiten war er entschlossen, Maler zu werden, er schreibt rückblickend: »Ich sollte und mußte, durch mißliche Vermögensverhältnisse gezwungen, Kaufmann werden, verließ aber bald diesen Stand, um mich der Malerei zu widmen.«[7] Diese ungeliebte Ausbildung brach er zu Beginn des Jahres 1879 ab und stellte sich an bedeutenden Kunstakademien vor, so zunächst in Düsseldorf, wo er sich als Schüler einschreiben konnte. Und auch das ist typisch für Urys Charakter: Er verschleierte Tatsachen in seinem Lebenslauf. So trug er sich in Düsseldorf als »Ury Lösser« mit dem Geburtsort Berlin ein und machte sich ein Jahr älter, also achtzehnjährig.[8] Es stellt sich die Frage, ob Ury dadurch keine Spuren, die seine Entwicklung nachvollziehbar machen, hinterlassen oder einfach seine Herkunft verschleiern wollte. Er schien rastlos zu sein und zog schon nach einem Jahr, ohne einen Abschluss, weiter und reiste nach Brüssel, Antwerpen und Paris, wo er versuchte, irgendwie mit Bilderverkäufen über die Runden zu kommen.
In dieser Zeit entstand eines seiner ersten Gemälde, Pariser Interieur (Kat. 2). Schon in diesem Frühwerk zeigt sich seine besondere Distanz zu den Menschen, die er festhält. Er malt eine tief in ein Buch versunkene, an einem Fenster sitzende Dame. Die streng konstruierte Zentralperspektive lenkt unseren Blick auf diese einzige Lichtquelle im Raum. Das Licht erhellt spärlich und gleichmäßig das weitgehend im Dunkeln liegende Zimmer. Die Gesichtszüge der Dargestellten sind nicht klar zu erkennen, sie sieht den Betrachter auch nicht an, sondern bleibt ganz für sich in diesem von der Außenwelt wie abgeschottet wirkenden Raum. Im Vergleich mit etwa Max Slevogt, der dieses Thema wenige Jahre später ganz anders umsetzt, wird die für Urys Werk so typische Komposition und Lichtbehandlung noch deutlicher. In Slevogts Interieur Nini am Tisch mit Vorhang (Abb. 1) ist es seine künftige Frau Nini, die am Fenster sitzt. Das Buch hält sie auf dem Schoß und blickt den Betrachter direkt an. Das Licht legt sich sanft auf ihre Gesichtszüge und scheint den Raum strahlend zu durchfluten. Der wehende Vorhang bringt Bewegung in die Komposition, während Urys Bildraum starr und statisch wirkt. Durch den anderen Bildausschnitt ist uns Nini viel näher, während Urys Dame völlig entrückt am Ende des dunklen Zimmers sitzt. Ury scheint wie ein heimlicher Beobachter die Szene festzuhalten, während Slevogt seiner Nini direkt gegenübersitzt.
Ury suchte weiteren Unterricht und schrieb sich in der Académie Royale des Beaux-Arts in Brüssel ein, diesmal als »Leiser Ury« aus Polen, aber auch hier blieb er nur ein Jahr und wechselte wieder nach Paris, um sich kurz darauf in die Einsamkeit des Dorfs Woluwe (Volluvet) in der Nähe der belgischen Hauptstadt zurückzuziehen.[9]
Es entstanden weitere dunkeltonige Interieurszenen, wie die Frau am Küchenherd (Kat. 3) oder Zeitungsleserin im Café (Kat. 9). Auch hier ist sein Standpunkt der eines stillen Beobachters. Die dargestellten, beinahe stilisiert wirkenden Personen sind in ihre Tätigkeit versunken und stehen nicht im Mittelpunkt, wie etwa bei Max Liebermann, der in seinen frühen realistischen Werken vor allem arbeitende Menschen in ihrem Umfeld darstellt. Ury interessiert allein das Licht! In diese von Schwarz, Braun und Dunkelblau dominierten Gemälde setzt er starke, herausleuchtende, pastos aufgetragene Farbakzente, so beispielsweise die rote Glut des Küchenofens, das hell auf den Kochtöpfen reflektierende Licht oder die weiße Zeitung der Leserin.
Auf der Suche nach weiterer Anregung kehrte der Maler wieder nach Berlin zurück, wo er allerdings vom Direktor der dortigen Akademie, Anton von Werner, der die offizielle Kunstpolitik Berlins im Sinne Wilhelms II. maßgeblich lenkte, abgewiesen wurde.[10] Nach diesem Rückschlag schrieb sich Ury an der Akademie der Bildenden Künste München in die Naturklasse von Johann Caspar Herterich ein.[11] Zeitgleich mit ihm studierte in dieser Klasse auch Max Slevogt.[12] Während Slevogt dort sein komplettes Studium verbrachte, die einzige Unterbrechung war ein Semester an der privaten Académie Julian in Paris, blieb Ury auch in München wieder nur für kurze Zeit und zog dann zurück in das ihm bereits vertraute Berlin. Auch mit Herterich, der entsprechend der damaligen Münchner Salonmalerei romantisch verklärte Genre- und Historienbilder schuf, scheint er keinen geeigneten Lehrer gefunden zu haben. Dies wundert nicht, wenn man Urys realistische Werke, wie beispielsweise Schlafender Arbeiter (Kat. 6), mit den Gemälden seines Lehrers vergleicht. Es soll dann der Künstler Fritz von Uhde gewesen sein, der ihm riet, das Studium in München abzubrechen.[13] Ury also ein Suchender? Oder eher ein Künstler, der beharrlich seinen Weg verfolgt und sich als Autodidakt das notwendige Wissen selbst angeeignet hat und Korrekturen seiner Lehrer ablehnte? Slevogt setzt sich dagegen zunächst mit der damals in München vorherrschenden akademischen Ateliermalerei auseinander, beendet sein Studium und entwickelt sukzessive seinen eigenen, am französischen Impressionismus orientierten Stil. Bei Slevogt unterscheidet sich sein zumeist dunkeltoniges Frühwerk in Bezug auf Malweise und Themen sehr stark von seinen später in Berlin entstandenen Werken. Bei Ury wirkt das Œuvre dagegen sehr viel geschlossener, er scheint seinen künstlerischen Stil schon früh gefunden zu haben: So behält er etwa die Faszination für Schwarz − bei den französischen Impressionisten die »Unfarbe« schlechthin! – ein Leben lang bei.

Ury im Umfeld der Berliner Secession
Also doch wieder Berlin! Völlig mittellos richtete sich Ury ab 1887 im Südwesten der Stadt ein kleines Atelier ein, und durch ein Empfehlungsschreiben von Fritz von Uhde suchte er den wichtigen Kontakt zu Max Liebermann. Dieser war einer der zentralen, gesellschaftlich etablierten und einflussreichen Persönlichkeiten der progressiven Berliner Künstlerschaft und im Unterschied zu Ury durch das Vermögen seiner Familie finanziell unabhängig. Liebermann versprach seinem jüdischen Glaubensgenossen zu helfen: So vermittelte er ihm einen Sammler, der ihm zwar 200 Mark gab, ein Bild aber aufgrund seiner Radikalität dann doch nicht haben wollte; er schrieb einen Brief an den Verein zu Unterstützung für Studierende und versuchte Ury Ausstellungsmöglichkeiten zu verschaffen. Diese Bemühungen waren erfolgreich, und Ury stellte das erste Mal im Kunstsalon von Fritz Gurlitt aus, wenn auch nur ein einziges Landschaftsbild.[14] Auch auf der Pariser Weltausstellung 1889 gelang es Ury durch die Befürwortung Liebermanns, der damals aufgrund des angespannten politischen Verhältnisses mit Frankreich den inoffiziellen deutschen Beitrag als Ausstellungsleiter verantwortete, teilzunehmen. 1890 konnte er bei Gurlitt bereits fast ein Dutzend seiner Gemälde präsentieren, dies war seine erste größere Ausstellung. Selbst Adolph von Menzel war auf ihn aufmerksam geworden, und Ury erhielt im gleichen Jahr durch seine Fürsprache den Michael-Beer-Preis der Akademie, der ihm einen einjährigen Studienaufenthalt in Italien[15] ermöglichte. Menzel hatte den jungen Maler kurz vorher sogar empfangen, aber mit seiner vehementen Kritik scharf abgewiesen.[16] Auch wenn die Ausstellungskritiken überwiegend sehr negativ über Urys in der damaligen Kunstlandschaft ungewöhnliche Arbeiten urteilten, waren diese Ausstellungen kleine Erfolge für den Künstler, der begann, sich in der damaligen Hauptstadt vor allem mit Hilfe Liebermanns in kleinen Schritten zu etablieren.[17]
Berlin scheint ihm gefallen zu haben, da er trotz der weiterhin sehr bedrückenden finanziellen Situation das Nachtleben der Großstadt in allen Zügen genoss. Hier fand er seine Themen, die vom Trubel der Berliner Straßen und den dortigen Cafés geprägt sind. Mädchen mit dem Schirm auf regennasser Straße (Berlin) (Kat. 42) zeigt seine Faszination für das hektische Treiben der Metropole. Dargestellt ist vermutlich die Leipziger Straße, die erst ein Jahr zuvor mit elektrischem Licht ausgestattet wurde, welches nun die Nacht zum Tag machte. Ury, der Maler des Lichtes und der Dunkelheit, kann sich hier austoben! Es sind die zahlreichen Lichtreflexe auf der regennassen Straße, die vorbeiziehenden Droschken und Passanten, die zu seinen Lieblingsthemen werden. Alle Berliner Straßenszenen vereint der besondere Blick des Malers, der wie ein Voyeur aus der Distanz agiert und die Menschen scheinbar heimlich malt, wie beispielsweise eine Dame, die mit ihrer Kutsche durch den Tiergarten fährt (Kat. 48). Diese Komposition wirkt so, als ob Ury hinter den Bäumen im Schatten versteckt sein Motiv skizziert hat. Auch die Kaffeehausszenen zeigen seinen distanzierten und beobachtenden Blick. Ury ist unter anderem gerne im Café Bauer (Kat. 12), zugleich das erste Café Berlins, das elektrisches Licht hatte. Der Maler sitzt nicht mit am Tisch, sondern inspiziert die Szenerie stets aus der Entfernung. Auch seine Protagonisten sind meist alleine, lesen in sich versunken Zeitung (Kat. 9, Kat. 10, Kat. 13) oder warten auf jemanden (Kat. 11, Kat. 12), und wenn sie zusammen am Tisch sitzen, reden sie nicht (Abb. 1).
Ury hält wie kein anderer der Berliner Künstler die Einsamkeit und Anonymität der aufstrebenden Großstadt fest. Diesen Blickwinkel findet man weder bei Liebermann noch bei Corinth oder Slevogt.
Neben den Berliner Straßenszenen ist sein zweites großes Thema die Landschaft.[18] Als Gegenpol sucht er immer wieder die Ruhe und Einsamkeit in der Natur. Am nahegelegenen Grunewald, in Thüringen, Holland oder Italien findet er seine Motive (Kat. 18, Kat. 37, Kat. 19, Kat. 26). Es sind stets menschenleere Landschaften, die im Abend- oder Gegenlicht gezeigt werden und dadurch eine Urys Werken eigene Stille ausstrahlen. Ury grenzt sich allein durch seine Themen stark von den anderen Berliner Künstlern der Moderne ab und hat eine sehr charakteristische Handschrift, die für die damaligen Kritiker schlicht als zu radikal aufgefasst wurde. Dennoch passte er sich nicht an irgendwelche Konventionen des Publikums an.

Eigentlich sollte seinem Erfolg nun nichts mehr im Wege stehen. Doch dann verbreitete Ury in Berliner Künstlerkreisen die Behauptung, dass die nachträglich verbesserten Lichteffekte von Liebermanns Gemälde Flachsscheuer in Laren (1887) − das erste Gemälde Liebermanns, das in die Nationalgalerie Berlin aufgenommen wurde − in Wirklichkeit von seinem (!) Pinsel stammen würden. Gegenüber dem Kunstkritiker und Publizisten Max Osborn wurde dieser offene Angriff gegen Liebermann dann mehrfach wiederholt.[19] Dieser Streit, der zu einem lebenslangen gegenseitigen Hass der beiden Künstler umschlug, hatte für Urys Karriere maßgebliche Folgen: Liebermann war gerade dabei, die avantgardistische Künstlergruppe der XI zu gründen, natürlich ohne Ury als Mitglied.[20] Somit blieb Ury eine weitere attraktive Ausstellungsmöglichkeit verwehrt. Und auch die Berliner Secession, die 1898 als Gegenpol zum bis dahin dominierenden akademischen Kunstbetrieb als wichtigste Künstlervereinigung gegründet worden war und deren Präsident Liebermann wurde, verweigerte ihm die Mitgliedschaft. Um andere Künstler warb Liebermann dagegen intensiv. So war er auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass Lovis Corinth sowie Max Slevogt von München nach Berlin wechselten und sich der Berliner Secession anschlossen.[21] Beiden talentierten Künstlern wurden durch die Berliner Secession Ausstellungsmöglichkeiten eröffnet; dazu kam der künstlerische Austausch mit Gleichgesinnten und die öffentliche Aufmerksamkeit durch die der Secession sehr nahestehende Zeitschrift Kunst und Künstler. Max Slevogt fand mit Paul Cassirer, der die Geschäftsführung der Secession übernommen hatte, einen begnadeten Kunsthändler in Berlin, der ihm Verkaufsausstellungen ermöglichte. Sein Vetter Bruno Cassirer wurde Slevogts Verleger. Beides waren für Slevogt die idealen Erfolgskriterien. Während Ury keinen Galeristen hatte, suchte Slevogt bereits in seiner Münchner Zeit früh nach einem Vertreter. Zunächst war dies der Wiener Kunsthändler Eugen Artin,[22] bis ihm dann der Kunstsalon Cassirer ein lukratives Angebot unterbreitete. Slevogt hatte sich schon in München der dortigen Secession (1892) angeschlossen, auch hier war Max Liebermann neben Walter Leistikow und Lovis Corinth ein Gründungsmitglied. Slevogt verstand es also schon von Beginn an, sich mit anderen Künstlern zu vernetzen und präsent zu sein. Auch er wurde zwar nie ein enger Freund Liebermanns, wusste aber professionell mit ihm in der Berliner Secession zusammenzuarbeiten. Durch sein Netzwerk mit Liebermann und den Cassirers erhielt Slevogt auch zentrale Kontakte zu wichtigen Auftraggebern und Sammlern, die sich gerne von ihm porträtieren ließen: eine lukrative Einnahmequelle, die sich dagegen in Urys Œuvre nur in wenigen Einzelfällen findet.[23] Liebermann hat immer wieder bestritten, dass er Urys Arbeiten bewusst für die Ausstellungen der Secession abgelehnt hatte: »Thatsächlich bemerke ich, daß nicht die Secession daran Schuld hat, wenn Ury nicht ausgestellt hat: er wurde wie jeder andre Maler zur Einsendung seiner Arbeiten aufgefordert. [...] es ist also eine infame Lüge, wenn U. verbreiten läßt, ich hätte aus Neid oder Eifersucht ihn von den Ausstellungen der Secession fern gehalten.«[24] Dennoch ist ein Zusammenhang von Urys Außenseiterposition durch den großen Einfluss Liebermanns auf die Berliner Kulturpolitik evident. In der Secession waren nahezu alle bekannten antikonservativen Maler und Bildhauer Deutschlands, die sich der Moderne verschrieben hatten, vertreten. Lesser Ury bildete die einzige Ausnahme.[25]

Späte Zeitenwende
Ury hatte zwar immer wieder kleinere Ausstellungen, so in erster Linie in der Galerie Gurlitt, aber während die Künstler der Avantgarde der Berliner Secession groß gefeiert wurden, wurde es in Berlin um Ury still.[26] Erst ab 1915, als die Liebermann-Cassirer-Partei wegen verschiedener Differenzen aus der Berliner Secession ausgetreten war und Lovis Corinth die Präsidentschaft übernommen hatte, stellte er erstmals in der Künstlervereinigung aus.[27] Und bereits ein Jahr später fand in den Galerieräumen von Paul Cassirer eine große Ausstellung mit insgesamt 80 Gemälden von Ury statt. Diese Ausstellung brachte ihm endlich den längst verdienten, aber viel zu spät einsetzenden großen Erfolg.[28] Ury, der seit 1901 am Nollendorfplatz 1 in Berlin wohnte, war zu diesem Zeitpunkt sehr viel auf Reisen in Italien und Deutschland und zog sich ansonsten meist in sein Atelier zurück.[29] Viele Gemälde zeigen von hier den Blick auf die belebte Straße; er brauchte sein Atelier also gar nicht extra verlassen. Oft wiederholte er auch frühere Kompositionen, mit denen er sich bereits gedanklich beschäftigt hatte.
Ury ging nicht wie die anderen Secessionisten rund um Max Slevogt zum Künstlerstammtisch ins Romanische Café, wobei ein Gemälde allerdings davon zeugt, dass er zumindest früher schon einmal dort war (Abb. 3). Ury nahm auch nie an den gemeinsamen Geburtstagsfeiern, Theaterbesuchen oder Secessionsbällen teil, die Slevogt und Corinth besuchten.[30] Er ging grundsätzlich nicht zu Bällen oder Vergnügungsgesellschaften, er zog sich vielmehr immer mehr zurück, denn fremde Menschen machten ihn nervös.[31] Im Gegensatz zu seinen Mitkonkurrenten Liebermann, Corinth und Slevogt, war Ury auch kein Familienmensch, zwar hatte er ab 1903 Meta Streiter (er nannte sie Katinka) als Freundin, aber sie wohnten weder zusammen − sie blieb finanziell unabhängig − noch heirateten sie.[32] Ury malte keine Bildnisse seiner Freundin und auch nicht seines aus dieser Beziehung stammenden Sohnes, wie es Slevogt und Corinth häufig taten. Auch Freundschaftsbildnisse anderer Maler oder enger Freunde interessierten den Einzelgänger nicht.
Anlässlich seines 60. Geburtstages wurde Ury sogar zum Ehrenmitglied der Berliner Secession ernannt, und im Januar 1922 bekam er aus diesem Anlass eine Einzelausstellung.[33] Es klingt fast zynisch, dass Ury nun nach über 20 Jahren verspätet doch Teil der Secession geworden war. Den immer verbitterter und einsamer gewordenen Außenseiter überforderten die Gratulanten, die sein Atelier, das er Fremden nur noch äußerst ungern öffnete, betraten. Drei der zahlreichen Geburtstagssträuße hielt er in Öl fest.[34] Selbst ein prächtiger Blumenstrauß ein Motiv, das er übrigens nur sehr selten wählte − ist umgeben von seiner Lieblingsfarbe Schwarz (Abb. 4). »Ury noir« war schon sein Spitzname in der frühen Pariser Zeit gewesen,[35] wahrscheinlich durch seine Vorliebe für diese Farbe oder sein clochardhaftes, heruntergekommenes Aussehen inspiriert. Durch das tiefe Schwarz scheinen die weißen und gelben Blüten der Chrysanthemen umso mehr aus dem Dunkel des Hintergrundes herauszuleuchten. Corinth inszeniert seine Chrysanthemen dagegen ganz anders: auf einem weißen Tischtuch, im hellen Licht flirrend, expressiv bewegt und stark farbig (Abb. 5). Wieder ein Beispiel, das zeigt, dass Urys ganz eigene Perspektive auf die Welt sich in jedem Vergleich mit den sogenannten »Deutschen Impressionisten« offenbart. Es ist der sensible Blick eines stillen Einzelgängers, in dem oft die Melancholie mitschwingt – selbst wenn er Blumen malt. Die größte Anerkennung, eine Retrospektive zu seinem 70. Geburtstag in der Nationalgalerie Berlin, sollte der Künstler nicht mehr erleben. Drei Wochen vor der Eröffnung verstarb der inzwischen als verwahrlost beschriebene Lesser Ury in seinem Wohnatelier in Berlin.[36]

Auszug aus: Lesser Ury. Der Einzelgänger unter den "Deutschen Impressionisten", hrsg. von Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Landesmuseum Mainz, Köln 2019, S. 9-21.

[1] Servaes (1932), S. 5/6.
[2] Schwarz (1995), S. 86.
[3] Der schriftliche Nachlass von Max Slevogt wird im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz/ Landesbibliothek Speyer verwahrt. Hier danke ich Dr. Armin Schlechter für die freundliche Auskunft.
[4] Zu der Biografie von Lesser Ury vgl. ausführlich Schlögl (1995). Schlögls Darstellung anhand von Dokumenten und Briefen stellt die erste umfassende und bis heute grundlegende Biografie dar.
[5] Schlögl (1995), S. 14. – Schlögl (2014), S. 33, 263.
[6] Norden (1902), S. 138.
[7] Ury (1898), S. 708.
[8] Seyppel (1987), S. 39. – Brauchitsch (2013), S. 21.
[9] Ebd., S. 24.
[10] Paret (1983), S. 24−46.
[11] Schlögl (1995), S. 16−20. – Schlögl (2014), S. 35−39.
[12] Best.-Kat. Max Slevogt-Galerie (2009), S. 12.
[13] Seyppel (1987), S.52. – Schlögl (1995), S. 20.
[14] Bei Gurlitt stellte auch Max Liebermann 1885 das erste Mal in Berlin aus.
[15] Zeitgleich war auch Max Slevogt auf Studienreise in Italien und absolvierte eine ähnliche Reiseroute. Best.-Kat. Max Slevogt-Galerie (2009), S. 12.
[16] Schlögl (1995), S. 21, 63 Anm. 13. – Meister (2005), S. 47−50. – Schlögl (2014), S. 39, 41.
[17] Brauchitsch (2013), S. 40/41. – Schlögl (2014), S. 44−47. – Groß (2019), S. 80/81.
[18] Da in der Sonderausstellung keine seiner religiösen Werke ausgestellt werden, wird dieses Thema in diesem Kurzbeitrag vernachlässigt.
[19] Max Liebermann, Flachsscheuer in Laren, 1887, Öl auf Leinwand, 135 × 232 cm, SMPK Nationalgalerie Berlin, Inv.-Nr. 592 (Eberle 1887/1). Ob Urys Behauptung stimmte, konnte nie eindeutig geklärt werden. Liebermann hat dieser nie widersprochen, noch hat er diese je bestätigt. Brauchitsch (2013), S. 47. – Winzen (2014), S. 149−151.
[20] Schlögl (1995), S. 21. – Zur Künstlervereinigung vgl. Meister (2005), S. 84–88. – Meister (2019), S. 12–14. Schon hier war Walter Leistikow Mitglied, der auch in der Berliner Secession eine führende Rolle einnehmen wird.
[21] Matelowski (2017), S. 41−52, 561.
[22] Vogl (2019), S. 39−69.
[23] Schlögl (2014), S. 112.
[24] Brief von Max Liebermann an Maximilian Harden vom 3.8.1904, in: Liebermann Briefe (2013), S. 225.
[25][25] Paret (1983), S. 230.
[26] Schlögl (1995), S. 27, 29.
[27] Matelowski (2017), S. 85 Anm. 158, 117. Dieselbe auch ausführlich zu der Geschichte der Berliner Secession.
[28] Schlögl (1995), S. 45.
[29] Ebd., S. 46.
[30] Feulner (2018), S. 14. – Wedekind (2018), S. 25/26.
[31] Schlögl (1995), S. 48.
[32] Ebd., S. 47/48. – Brauchitsch (2013), S. 81/82.
[33] Matelowski (2017), S. 110, 123.
[34] Brauchitsch (2013), S. 100/101.
[35] Ebd., S. 28.
[36] Schlögl (1995), S. 55−59. – Brauchitsch (2013), S. 108/109.

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