Die Erziehung der Schildkröte. Wanderungen durch Berlin

Die Erziehung der Schildkröte. Wanderungen durch Berlin

Die Erziehung der Schildkröte. Wanderungen durch Berlin

Von David Wagner

 

                                                    Wohin?

„Und wohin gehen wir heute Nacht? Wohin führst du

mich?“

„Ich führe dich doch nicht. Ich ziehe dich nur ein bisschen.“

„Und wohin?“

„Nach Berlin.“

„Sind wir da nicht schon?“

„Ja, aber in welchem? In welchem Berlin?“

„Wie viele gibt es?“

„Lass dich überraschen.“

„Was bleibt mir anderes übrig? Du kennst dich aus.“

„Ich weiß schon, wohin du möchtest.“

„Wohin denn? Ich könnte es nicht sagen.“

„Ich weiß halt immer mehr über dich als du selbst.“

„Woher?“

„Ich bin dir halt ein Stück voraus.“

„Du ziehst mich durch die Vergangenheit, ich merk

das schon.“

„Ja? Erinnerst du dich?“

„Die Schönhauser hinunter, Weinbergsweg, Rosenthaler Platz, Hackescher Markt, Friedrichstraße, Tiergarten bis Neu-Westend.“

„Immer weiter, kreuz und quer, schön langsam.“

„Du kriechst voraus, ich hinterher.“

„Wir schlängeln uns durch die Stadt. So langsam wie

möglich, damit wir nur ja an kein Ende kommen. Das ist

die Kunst. Damit immer noch ein Weg bleibt.“


                                                    Wo?

„Wo sind die Passanten? Wo sind die fast vier Millionen

Berliner?“

„Ach, jetzt vermisst du sie? Auf einmal? Sie schlafen

wahrscheinlich. Sie schlafen tief und fest.“

„Spät in der Nacht bis frühmorgens ist die Stadt oft wieder so, wie ich sie kennengelernt habe. So still und leer und ausgestorben, wie sie einmal war.“

„Stimmt, Berlin war viel leerer. Ich erinnere mich. Und

voller. Es ist auch mal viel voller gewesen, das aber ist

länger her, daran kannst du dich nicht erinnern. Du bist

ja noch nicht so lange auf der Welt. Und daher noch

nicht so lange in Berlin.“

„Und du?“

                                                    Siegessäule

„Wie schön es wäre, wenn hier nie Autos fahren würden. Wir könnten die Siegessäule zwei-, drei-, viermal zu Fuß umrunden.“

„Findest du nicht auch, dass der Große Stern viel zu groß

ist? Wozu die vier, fünf Spuren? Es sind viel zu viele.“

„Er war einmal kleiner, dieser Große Stern. Er hatte nur

einen Durchmesser von siebzig Metern. Albert Speer hat ihn auf über zweihundert Meter Durchmesser vergrößern lassen, als er die Siegessäule hier aufstellen ließ, die ursprünglich vor dem Reichstag stand. Alles für den Führer. Und für die großen Siegesparaden, die dann gar nicht stattfinden konnten, weil der Krieg bekanntlich verloren ging.“

„Zeit für Rückbau. Zeit, den Großen Stern, diesen

Todesstern, zu verkleinern.“

„Siehst du den Fuchs dort drüben?“

„Ja, er wartet an der roten Ampel.“

„Schlauer Fuchs. Er wird überleben. Wir vielleicht nicht.“

„Du wahrscheinlich schon, Kröti. Du bist doch unsterblich. Du bist doch schon immer hier.“


                                                    Deutsche Oper

„Waschbeton und Oper, passt das zusammen?“

„Das waren die 1960er-Jahre. Stuck war nicht so beliebt. War belastet. Dabei bilden die Kiesel im Beton ihr eigenes Ornament.“

„Heute ist die Deutsche Oper doch ein Altbau.“

„Sie ist alt genug. Und das Opernhaus, das vorher dort

stand, das Charlottenburger Opernhaus, war nicht

schöner. Im Gegenteil.“

„Waschbeton war die Oberfläche meiner Kindheit, Kröti.

Die Wege durch unseren Garten waren mit Waschbetonplatten ausgelegt. Die Terrasse: waschbetongepflastert. Der Schulhof: Waschbeton. In der Straße, in der wir wohnten, gab es sogar aus Waschbetonplatten errichtete Mülltonnenmöbel.“

„Was bitte sind Mülltonnenmöbel?“

„Unterstände. Kleine Garagen für Mülltonnen. Zum Wegsperren der Müllkübel. In vielen deutschen Städten

scheinen Anwohner Angst zu haben, jemand könnte ihnen den Abfall stehlen.“

„Es gibt sogar Waschbeton mit Carrara-Marmor-Bruch.

Eine Luxusvariante.“

„Wo? In Berlin?“

„Schau dir die Fassade der katholischen Blutzeugen-Kirche Maria Regina Martyrum an.“

„Wo steht die?“

„Sie steht nicht, sie schwebt. Nicht weit hinter Kalowswerder im Niemandsland zwischen Kleingartenkolonien und der Haftanstalt Plötzensee. Wo die Speerplatte lag.“

„Lass uns hinwandern.“

„Eines Tages, eines Nachts vielleicht.“

„Wie schnell sind wir eigentlich unterwegs? Sechzig,

siebzig Stundenkilometer schnell?“

„Wir rasen eher langsam. Ganz langsam. Du hast dein

Zeitgefühl verloren.“

„Manchmal kann ich dir kaum folgen. Von der Siegessäule zur Deutschen Oper haben wir nur fünf Minuten gebraucht.“

„Oder waren es doch fünfzig?“

„Hast du einen Schildkrötmotor, der uns heimlich

beschleunigt?“

„Brauchen wir nicht. Haben wir gar nicht nötig. Wir haben doch Zeit. Die ganze Nacht.“


                                                    Haus des Lehrers

„Haben wir uns wieder verlaufen?“

„Nein, ich wollte dir nur die kleinen glitzernden weißen

Kacheln am Haus des Lehrers zeigen.“

„Waren wir hier nicht schon mal? Sind wir hier nicht

schon vorbeigewandert?“

„Sicher. Wir sind schon fast überall gewesen.“

„Du bestimmt. Wer hat das Haus des Lehrers erbaut?

Wer war das noch mal?“

„Hermann Henselmann hat es entworfen. Erbaut haben

werden es die Arbeiter.“

„So wie das siebentorige Theben? Danke.“


                                                    Voraus

„Ich glaube, du bist ein Stück von mir, das immer vorausgeht?“

„Ach so? Ja?“

„Ja.“

„Na, wenn du das glaubst.“

„Spürst du, wie die ein oder andere uns begleitet?“

„Ja, die Toten können mit uns gehen. Du musst nur an sie denken.“

„Die Schatten neben uns? Wirklich? Wir spazieren mit

den Toten?“

„Sie sind gar nicht tot, die Toten. Sie sitzen auf deiner Schulter. Ich kann sie sehen. Sie sitzen auch auf meinem Panzer. Sie sind schwer und sind es nicht. Sie wiegen fast nichts mehr.“


                                                    Fidicinstraße

„Hier habe ich mal gewohnt.“

„In der Fidicinstraße? Wirklich?“

„Nein, ich glaube, ich hätte hier gern mal gewohnt.“

„Sie hat keine Bäume, dafür einen Wald von Balkonen.“

„Fidicinstraße und Chamissoplatz sehen wie Berlin-Abziehbilder aus. Wie aus einem Berlin-Film.“

„Sieht es am Chamissoplatz vielleicht wie in dem Film

Berlin Chamissoplatz aus?“

„Genau.“

„Berlin erinnert hier an eine Berlin-Kulisse, weil die Gegend in so vielen Berlin-Filmen zu sehen war. In Loriots Ödipussi zum Beispiel.“

„Gehst du viel ins Kino, Kröti?“

„Ja. Und der echte Ort bekommt den Charakter einer

Kulisse, wenn er in zu vielen Filmen zu sehen war. Was

auch daran liegen kann, dass die frühere, jetzt abgerissene Alt-Berlin-Kulisse im Studio Babelsberg sehr wie Fidicinstraße und Chamissoplatz aussah. Die kennst du aus dem Fernsehen.“

„Und fern siehst du auch?“


                                                    Brunnenstraße

„In wie vielen Berlins hast du gelebt? Wie viele hast du

bewohnt?“

„Mir fielen einige ein.“

„Wie viele hat es denn gegeben? Wie viele zählst du?“

„Das Neue Berlin. Normalberlin. Ost-Berlin. Das Berlin der Wende. Berlin, Hauptstadt der DDR. Südwestberlin.

Nordberlin. West-Berlin, die halbe Stadt, die es nicht

mehr gibt.“

„Weißt du noch, wo die Grenze war?“

„Du meinst, wo Westen und wo Osten war?“

„Ja.“

„Hier, Brunnenstraße, Ecke Bernauer ist es ganz einfach: Westen war im Norden, der Osten liegt südlich.“

„Aha.“

„Am Checkpoint Charlie war es genau umgekehrt.“

„Und für die Himmelsrichtung hat du dieses Organ, mit

dem du das Erdmagnetfeld spüren kannst?“

„Genau. Ich habe immer einen Kompass dabei. In mir.

Ich weiß immer, wo ich bin in Berlin. Irgendwo in Berlin.“

„Können wir Berlin eigentlich verlassen?“

„Nein, wir sind immer in Berlin. Für immer.“

„Für immer und ewig?“

„Nein, Quatsch, nichts ist für immer. Und auf ewig schon gar nicht. Nicht in Berlin zumindest.“


                                                    Nationalgalerie

„Habe ich das geträumt oder stimmt es, dass es auf

Jamaika eine Rumfabrik gibt, die genauso aussieht wie

die Neue Nationalgalerie?“

„Nein, das hast du nicht geträumt. Es war nur nicht

Jamaika, sondern Kuba, und die Fabrik hat es nie gegeben.“

„Also doch geträumt?“

„Mies van der Rohe sollte eine neue Bacardi-Zentrale

bauen, alles war geplant, die Bauvorbereitungen liefen – dann aber kam die Kubanische Revolution dazwischen. Ein gewisser Fidel Castro.“

„Castro?“

„Der mit Zigarre und Adidas-Jacke.“

„Und die Schnapsfabrik wurde nicht gebaut?“

„Nein, die kubanische Rumproduktion wurde verstaatlicht, die neue Bacardi-Zentrale wurde nicht gebaut.“

„Und wie kam die Fabrik dann nach Berlin?“

„Berlin wollte eine neue Nationalgalerie, West-Berlin hatte ja keine. Und fragte bei Mies van der Rohe nach. Und der hat ihnen die Rumfabrik angedreht, aufgehübscht mit Elementen seines Barcelona-Pavillons. Kunst und Schnaps, Kuba und Berlin, ist doch alles eins.“

„Nach der Renovierung sollte eine Bar dort eröffnen.

Sie sollten Rum ausschenken. Kubanischen Rum.

Kubanischen Van-der-Rohe-Rum.“


                                                    Staatsbibliothek (West)

„Warum heißt es eigentlich ‚Staatsbibliothek zu Berlin‘?“

„Na, weil sie ist doch jetzt zu, die Bibliothek. Deshalb.“

„Hahaha. Ist das Schildkrötenhumor?“

„Genau. Und gleich erzähle ich dir wieder einen Schildkrötenwitz.“

„Wenn geöffnet wäre, könnten wir uns ein wenig aufwärmen. Und unsere Taschen an der Garderobe abgeben.“

„Du könntest deine Tasche abgeben. Was schleppst du

eigentlich mit dir herum?“

„Na, all das, was ich dabei habe. Und alles, was ich von

der großen Berlinologin lerne.“

„Von mir?“

„Ja, von dir. All deine Berlin-Erinnerungen und Berlin-

Weisheiten trage ich in dieser Tasche.“

„Spürst du den Waschbeton unter uns?“

„Ja, stimmt. Waschbeton auch hier.“

„Die Stabi stammt aus der Waschbetonzeit. Waschbeton, West-Berliner Lieblingsbaustoff.“

„Mir fällt ein, dass ich hier vor dem Haus mal eine Sonnenfinsternis gesehen habe. Ich saß im großen Lesesaal oben, vor dem Fenster, da ertönte eine Durchsage: ‚Liebe Leserinnen und Leser, liebe Besucher der Staatsbibliothek, in fünfzehn Minuten wird sich eine Sonnenfinsternis ereignen. Wir laden sie ein, … und so weiter.‘ Fast alle strömten hinaus und schauten, manche, trotz der Warnung vor Erblindung, ohne Schutzbrillen. Viele andere, auch ich, schauten durch Röntgenbilder.“

„Das Unglück der Umgebung ist die umgehungsstraßenbreite Trasse der Neuen Potsdamer Straße. Sie zerstört alles. Wieso musste hier eine Autobahn gebaut werden?“

„Warten wir auf das neue Museum, das hier entstehen soll?“

„Die Kunstscheune mit dem goldenen Dach?“

„Ja, die mit dem goldenen Dacherl.“

„Warten wir.“


Auszug aus, Gezeichnete Stadt. Arbeiten auf Papier von 1945 bis heute, hrsg. homas Köhler, Annelie Lütgens, Berlinische Galerie, Landesmuseum für moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Ausst.-Kat., Köln, 2020, S. 249-263

 

David Wagners neuester Roman: Der vergessliche Riese, ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis 2019

mehr lesen

Die Faszination internationaler Künstler und Künstlerinnen für die Großstadt Berlin, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entsteht, ist lebendig und gegenwärtig. Anhand von Arbeiten auf Papier lädt dieser Band den Betrachter ein, die im doppelten Sinne ...

Hardcover

39,80 € *

leider nicht mehr lieferbar

mehr lesen Auf den Merkzettel